von Michael L.
Kurz danach treffe ich Narayan aus Seattle, der zu meinem Vergnügen genau meinen Humor teilt. Er beschwert sich, dass sein Kumpel und Begleiter ohne das zuvor vereinbarte Protokoll einzuhalten einfach aus der Veranstaltung ausgeschieden sei. Das Protokoll wollte, dass wenn immer einer der beiden aufhören wollte, der andere sein Smartphone bekommt und der Frau des Aufhörwilligen eine SMS schreibt, in der sinngemäß steht, dass ihr Mann ein Weichei ist und vor hat, PBP hinzuschmeissen. Erst wenn derjenige, der auföhren möchte nochmal bestätigt wird diese SMS abgeschickt und dann darf er aufhören. Sein Kumpel sei an einer Kontrollstelle beim Essen einfach kurz verschwunden und hatte wohl bei seiner Rückkehr verkündet, dass er den Offiziellen gerade gesagt hätte, dass er nicht mehr dabei ist. "The asshole skipped the protocol"... Wir fahren einige Kilometer zusammen bis nach Villaines-la-Juhel. Der dortige Empfang verschlägt mir die Sprache: 1000e Leute entlang der Straße, Volksfeststimmung, Jubel und ausgelassene Heiterkeit trotz sicherlich 30 Grad im Schatten...
Leider verpasse ich es beim Stempeln etwas zum Essen zu kaufen, bzw die Schlange ist mir zu lang und ich mache mich gleich wieder auf den Weg. Erst nach über 10km kommen wir an einem Supermarkt vorbei - ich schreite zum Großeinkauf... jaja mit Heißhunger einkaufen... man kennt das. Darüberhinaus überschätze ich das Packvolumen meines spartanisch mit Packtaschen ausgestatteten Rennrads - so dass ich am Ende große Teile der Einkäufe an eine Familie verschenke, um wieder weiterfahren zu können.
Trotz allem hat die Druckbetankung gut getan - mit neuer Energie geht es weiter in die Nacht, nachdem inzwischen gute 1000km der Strecke zurückgelegt waren. 200 (Rest-) Kilometer in 20 Stunden - das sollte auch mit ausgiebiger Schlafpause zu schaffen sein - ich war wieder bester Dinge!
Es folgt ein langgezogener Aufstieg (natürlich immer wieder gespickt mit kleinen Abfahrten - wir sind ja schließlich bei Paris-Brest-Paris...) und zum wiederholten Male treffe ich auf eine Gruppe aus Österreich, an die ich mich hintendranhänge. Weniger wegen des Windschattens (der sich bergauf eher bescheiden auswirkt), als eher aus Gesellschaftssuche... lange dauert's nicht, dann ist die Gruppe irgendwie zersplittert und ich fahre erst mal alleine weiter durch das goldene Licht des einsetzenden Sonnenuntergangs.
Später treffe ich wieder auf den Neurologen aus New York, der im Liegerad gestartet ist. Er fährt ein sehr gutes, konstantes Tempo, gut für mein Knie und meine inzwischen stärker schmerzende Archillessehne. Wir verabreden uns lose, die anstehende Nacht gemeinsam durchzufahren. Auch er möchte eigentlich nicht zu lange in Montagne-au-Perche schlafen, weil er Angst vor der darauffolgenden "kalten Weiterfahrt" hat. Durch einige schöne Städtchen und Dörfer geht es hinauf nach Montagne-au-Perche. Kurz vor Ankunft an der Kontrollstelle spielt sich vor mir eine unterhaltsame Szene ab: ein anderer Randonneur, den ich noch kurz ob seines eleganten Antritts bewundere, steigt unvermittelt von seinem Rad ab, packt es am Lenker und haut es daraufhin immer wieder fluchend auf die Straße - er scheint kurz mit der Gesamtsituation überfordert. Ich rede ihm gut zu, halte aber Sicherheitsabstand (man weiß ja nie) und fahre weiter die letzten Meter hoch zur Kontrolle.
Aus dem kurzen Powernap wird dann doch ein etwas ausgiebigeres Schläfchen, ich haue mich von 22:30 bis 0:30 mittem im Trubel auf einem Fleckchen Wiese mit meinem Schlafsack aufs Ohr. Inzwischen ein erfahrenerer Brevet-Schläfer der ich nun mal war, gleich von Anfang an mit Ohropax und einer selbstgebauten Schlafkappe. Herrlich... Auch das Packen des Rades (Schlafsack rein, Regenhose drüber, Klamotten an, Tasche zu und weiter) klappte innerhalb weniger Minuten und zack - war ich wieder auf dem Rad. Zugegebenermaßen fiel mir das Geradeauslaufen in den Kontrollstellen inzwischen ziemlich schwer - ich merkte deutlich wie ich hin und her wankte - aber Radfahren funktionierte einwandfrei (und ziemlich geradeaus).
Donnerstag (3 Tage, 4 Nächte)
Also hinein in die letzte von 4 Nächten - es war nicht mehr so kalt wie die Nacht zuvor und ich kam ohne Ganzkörperzittern aus Montagne-au-Perche raus. Dank der vielen Kleidungsschichten, die ich vorsorglich gleich nach dem Schlafen angezogen hatte war es spätestens nach der ersten Auffahrt wieder wunderbar warm und treffe den "ersten Finnen, der mit mir spricht". Er sollte mich die ganze restliche Nacht hindurch bis zur letzten Kontrollstelle in Dreux begleiten - und dort spurlos verschwinden (ich habe ihn erst Tage später auf Strava "wiedergetroffen").
Beide mit dem Schlaf kämpfend, halten wir uns gegenseitig durch dummes Geschwätz wach. Ich habe im Anschluss an diese Nacht verschiedene Anläufe unternommen, den ein oder anderen humoristischen
Moment dieser Nacht "rüberzubringen", bin aber jedes mal kläglich daran gescheitert und erspare dem geneigten Leser einen weiteren Anlauf. Wir treffen jedenfalls sehr viele Radler, die jetzt mit
dünner Kleidung schlafend neben der Straße in der Wiese liegen, oft in Rettungsdecken gehüllt. Der Finne erzählt mir von Abenteuern in Finnland, wie dem "Wurscht-Rennen": los geht's nach
Sonnenuntergang, Ankommen vor Sonnenaufgang, mindestens 160km (in Finnland ist es im Winter ca. 17h dunkel).
Nach einer Weile treffen wir auf einen offensichtlich "gecrashten" Radfahrer. Er stammelt etwas von "It might be possible I fell asleep..." - sein linker Lenkergriff war völlig demoliert - er war
in eine Mauer gefahren... bei 25km/h... das Blut tropft von seiner Hand, ich krame mein Erste-Hilfe Set raus und helfe ihm dabei, seine Hand zu verbinden (er hatte gar nicht gemerkt, dass er
blutet).
Kurz darauf treffen wir einen anderen Radler der an der Strecke entlang läuft. Zuerst schockiert mich, dass vor uns mindestens 10 andere Mitfahrer einfach an ihm vorbeifahren, ohne ihn
anzusprechen. Dann fragen wir ihn, ob alles OK sei, er stammelt nur etwas von "too cold for cycling - I decided to walk". Das Angebot meine Rettungsdecke zu bekommen um sich zu wärmen schlägt er
aus, ihm ist irgendwie nicht zu helfen... also weiter.
"Cycling is the new normal" meint mein finnischer Freund, als wir darüber sprechen, dass wir beide nicht mehr wirklich laufen können, aber radfahren geht jetzt "nebenher". Ich hatte das Erlebnis
schon einmal beim BRM 1000 in der Schweiz. Auch dort konnte ich nach meiner letzten Pause nicht mehr richtig laufen und "aufs Rad klettern" - sobald ich aber mal draufsaß und die Schuhe
eingeklickt waren, ging der Rest wie von alleine.
Irgendwann kommen wir in Dreux an. Wie schon gesagt: schwups war mein Begleiter verschwunden (oder ich zu müde um ihn zu sehen) - also torkele ich in die Kontrolle und hole mir meinen vorletzten
Stempel.
Fahrrad-Schlaf-Leichen liegen hier jetzt überall. Jegliche Hemmschwelle scheint überwunden, die Leute schlafen kreuz und quer und überall auf dem Boden, auf den Tischen, im Sitzen... Ein kurzer Blick in den Audax-Suisse WhatsApp Chat: Stefan ist auch da... ich suche ihn... Frank ist auch da! Ich brauche 30min Powernap auf dem Boden und wir fahren um 7:00 zu viert weiter. Die Stimmung ist unbeschreiblich. Für uns vier ist klar, dass wir in Zielzeit ankommen werden und so lassen wir es überwiegend gemütlich Rollen. Sogar Frank, der normalerweise keine Gelegenheit für eine Tempoverschärfung auslässt - scheint jetzt besänftigt und wir genießen die letzten Kilometer.
Einige Kilometer nach Dreux fahren wir in den schönsten Sonnenaufgang der gesamten Tour - ich grinse innerlich (und äußerlich) wie ein Honigkuchenpferd.
Die Strecke führt uns nochmal durch den Wald von Rambouillet und kurz vor unserer Ankunft in der Bergerie werfen wir uns nochmal richtig in Schale: jeder zeigt stolz sein neues Audax Suisse Trikot. Zu viert in einer Reihe überqueren wir nach ungefähr 85h und 1228km überglücklich die Ziellinie. Es gilt noch eine böse-gravellige Schleife durch den Hof zu meistern, bevor die Zeitnahme erfolgt, aber auf Gravel hatte uns Thomas ja bestens vorbereitet.
Ich hatte des öfteren vom nüchternen Empfang im Ziel von Paris-Brest-Paris gelesen und war deswegen ohne große Erwartungen im Ziel eingefahren. Aber die Frau am letzten Checkpoint küsst uns links und rechts auf die Wange und beglückwünscht uns bei der Übergabe unserer gefühlt 5kg schweren Medaille - herzlicher könnte ein Empfang nicht sein. Wir fühlen uns wie Helden.
Epilog: Gedanken Davor - Während - Danach
Dann war es also plötzlich vorbei - das Ereignis, auf das man sich über ein Jahr vorbereitet und gefreut hat. Neben Euphorie über den Erfolg mischte sich bei mir reichlich Wehmut, dass es "schon
vorbei war". Dazu hatte ich während der Fahrt natürlich viel Zeit über alles mögliche rund um PBP nachzudenken - ein paar Gedanken möchte ich mit euch teilen.
Was mich am meisten beeindruckt hat, war die Begeisterung und Hilfsbereitschaft der Menschen um uns herum: über 2000 Freiwillige Helfer, die an den Kontrollstellen rund um die Uhr auf uns
gewartet haben, unsere Stempel verteilt haben, Essen verkauft haben, die Richtungen in und aus den Kontrollstellen angezeigt haben und und und. Dazu die vielen Zuschauer am Straßenrand - entweder
durch die ganze Nacht hindurch anfeuernd oder Essen und Trinken verteilend oder gar einen Schlafplatz in einem aufgestellten Zelt anbietend. Kinder, die einem zurufen, dass sie ein Autogramm
wollen. Und nicht zuletzt Autos, die mit sehr viel Rücksicht und Geduld hinter einem herfahren, bis sie vernünftig überholen können, nicht drängeln und nicht hupen - oder einem mit Lichthupe
winkend entgegenkommen und aus dem Auto raus anfeuern.
Ein paar Wochen vor PBP habe ich mit einer Rennradfahrerin gesprochen, deren Freundin auch schon bei PBP gestartet ist. Sie meinte, dass ihre Freundin hinterher gesagt hätte, dass sie das nicht
nochmal machen wolle, weil sie sich schöneres vorstellen könnte, als mit dem Duft von Schweinedung in der Nase durch die immer gleiche, langweilige Landschaft zu fahren. Diesen Eindruck kann ich
absolut nicht teilen. Natürlich ist eine Fahrt durch die Bretagne nicht so abwechslungsreich wie einmal rund um die Schweiz, aber ich fand die Veränderungen in der Landschaft sehr reizvoll und
war beeindruckt von der Vielfalt an unterschiedlichen Eindrücken entlang der Strecke. Wer hier zu viel Spektakuläres erwartet, der ist bei PBP falsch aufgehoben - aber Schweinemist habe ich nur
ein einziges Mal entlang der Strecke gerochen - und ich war sensibilisiert!
So noch nie erlebt habe ich auch die große Spanne an Motivation und Ambitionen: vom Ultra-Ausdauersportler, der die 1200km in 43 Stunden runterreisst bis hin zu 80-jährigen, die im Ziel von zwei
Helfern vom Fahrrad geholfen wurden war alles dabei. Und alle schienen akzeptiert und gut aufgehoben zu sein. Auch in Hinblick auf die Nationalitäten eine einmalig integrative Veranstaltung.
Besser kann man Menschen nicht zusammenbringen und viel mehr reden Menschen von so unterschiedlicher Herkunft wahrscheinlich auch sonst nicht oft miteinander.
Bei einigen hat man dennoch den Eindruck, sie haben den Geist dieser Traditionsveranstaltung nicht verstanden: da wird nicht zurück gegrüßt, da wird keine Führungsarbeit geleistet und sich
hemmungslos ans Hinterrad geklemmt, da werden während dem Fahren nur Videos, Fotos und Posts gemacht und alles durch die Sozialen Medien gepostet, ohne wirklich da zu sein, da fährt man nicht
self-supported, sondern ein Begleitfahrzeug bringt Ersatzrad, Essen, Trinken, Schlafgelegenheit...
Bei den Wohnwagenkollonnen vor jeder Kontrollstelle hab ich mich auch gefragt, ob das noch im Sinne des Erfinders ist und ob überhaupt 6000 Leute eine Chance hätten teilzunehmen, wenn jeder sein
Übernachtungsquartier auf 4 Rädern mitbringt. Ist PBP damit letztlich ein Stück weit käuflich geworden, dass man sich viele Unnannehmlichkeiten und Herausforderungen letztlich durch Geld aus dem
Weg schaffen kann?
Die allermeisten Mitstreiter - scheint es mir - leben den Spirit, suchen das Gespräch, sind interessiert an Austausch, helfen sich, ziehen sich, finden motivierende Worte füreinander. Die paar
schwarzen Schafe haben für mich der Stimmung keinen großen Abbruch getan. Dennoch entstand der Eindruck, dass mit der Popularität an der Veranstaltung auch droht, dass sich der Charakter ändert -
was sehr traurig wäre.
Ich hatte noch nie während einer einzigen Tour so viele Höhen und Tiefen und es war ein gutes Gefühl, dass ich mich aus den Tiefen selbst wieder rausarbeiten konnte. Die Brevets bei Audax Suisse
waren dazu in mehrfacher Hinsicht eine super Vorbereitung: natürlich waren sie ein perfektes Training (rein sportlich betrachtet). Auch wenn ich Thomas für das "anstrengende" 600er noch innerlich
tadelte - ich kannte danach die Höhen und Tiefen des Brevet Fahrens und wusste damit umzugehen. Ich durfte den Audax Spirit (kennen-)lernen und war hoffentlich ein vorbildlicher Teilnehmer in
Paris. Ich hatte die Möglichkeit, sehr viele gute Freunde kennenzulernen, mit denen ich bei PBP teilweise wieder unterwegs war - das hat es noch mehr zu einem besonderen Erlebnis werden lassen.
Und last-but-not-least war die letzte Kackstraße in der Bretagne immer noch 10 mal besser als der durchschnittliche THB-Gravel.
Abschließend noch ein paar Worte zu meiner sportlichen Leistung: hätte man mir vorher gesagt, dass ich "nur" 85:40 schaffen würde, wäre ich vermutlich enttäuscht gewesen - weil ich davor rein an
Kilometer und Zeit gedacht hätte. Sicherlich hätte ich ohne die Knieprobleme und ohne so viele Fotos zu machen sehr viel schneller fahren können - ob es unter 80 Stunden geworden sei mal
dahingestellt. Aber was ich im Lauf der 4 Tage gelernt habe, war, dass Schnellfahren nicht das Erleben verstärkt. Das waren letztlich die Gespräche an den Kontrollstellen und das Zeigen von
Dankbarkeit, indem man dort nicht durchhetzt, sondern sich mit den Helfer_innen unterhält, ein Foto gemeinsam mit ihnen macht, etwas isst, ruht, dem Treiben zusieht. Ich habe auch gerne mal für
andere Führungsarbeit geleistet, die sich dann an mich dranhängen konnten - auch wenn ich nicht wirklich schnell war - weil ich in anderen Momenten froh war, mich an jemand anderen dranhängen zu
können. Irgendwann kam auch der Moment, in dem ich gar nicht wollte, das alles so schnell aufhört und letztlich zählt das Erleben und nicht die Zeit. Darum: hell yeah - ich hab's geschafft!