by Dai Huber
Wir rauschen durch die grünen Alleen vor Rambouillet. Noch 10 Kilometer. Harmonieren als Vierergruppetto und mobilisieren füreinander die letzten Kräfte. Angefeuert von begeisterten Zuschauern, brettern wir über die welligen Hügel vor Paris. Es ist kurz nach 16 Uhr.
Bald sind wir 48 Stunden auf den Landstrassen Frankreichs unterwegs, das Schlosstor und damit die magische 50 Stundenmarke in Sichtweite. Es wird wahr…
etwas länger vor dem start
Welches Fahrrad nimmst du mit? Welche Übersetzung eignet sich? Wie soll deine Ernährung funktionieren? Trinkrucksack? 20, 30, 35 Gels? Neue Reifen?
Multitool neu zusammensetzen. Di2 laden. Salztabletten nicht vergessen!
Gedanken über Fragen über Ideen. Vor dem geistigen Auge kreisen unendlich viele Visionen.
Die Learnings aus den grossartigen Brevets von Thomas (Audax Suisse) sind fast lückenlos umgesetzt: Mehr stabilisierende Rumpfübungen, Handschuhe gegen scheuernde Hände, regelmässige Chamois-Creme für ein weiches Sitzgefühl um nur ein paar Stellschrauben zu erwähnen. Mit der Super-Randonneur-Serie (200km, 400km, 400km, 600km) plus einen Extra-600er in der Trikottasche fühle ich mich süper-prêt für Paris-Brest-Paris 2023.
Die Vorfreude nimmt Fahrt auf und wird bald akut.
So setze ich mir kurz vor der Abreise ein stilles Ziel: PBP in unter 50 Stunden. Trotzdem (oder gerade deswegen) studiere ich mir beinahe mantraähnlich ein: PBP ist kein Rennen. Deine Zeit ist egal – gesund finishen geht vor. Es gibt keine Rangliste. Unterhalte dich mit den Leuten. Leg dich schlafen.
unmittelbar vor dem start
Ich reihe mich im Startblock C ein. Die Nachmittagssonne lacht uns warm ins Gesicht – lieber Schweissperlen als gar keinen Schmuck. Ein paar Randonneure versprühen Hektik, verabschieden sich von ihren Soigneuren, fachsimpeln über die bevorstehende Ausfahrt. Von Winterhandschuhen über 150mm Vorbauten bis hin zu Brompton-Fahrrädern – hier lassen sich Settings beobachten, die einem die Grenzen seiner eigenen Kreativität bewusstmachen.
Sonntag 16:30 / km 0 (Rambouillet)
Kaum aus dem Schlosspark, lassen sich kräftig selbstlose Herren an die Feldspitze spannen. Sie machen den Eindruck, heute Abend den Streckenrekord egalisieren zu wollen. Ihr loderndes Feuer wird kaum bis Brest brennen. Ich unterhalte mich mit einigen Fahrern und geniesse das Feld vom 10. Platz aus. Soweit bewahrheitet sich meine Vermutung: Im C-Block gibt es keine Stürze, keine 800 Watt Peaks und dennoch ein zügiges Tempo der „Freiwilligen“.
Nach knapp vier Stunden in Mortagne-au-Perche stürzen sich die Fahrer auf ein paar wenige Wasserstellen. In leiser Vorahnung habe ich mich zuvorderst im Feld positioniert, fülle auf und fahre gleich wieder los.
In den Dörfern stehen die französischen Zuschauer mitten auf der Hauptstrasse Spalier. Um 11 Uhr abends lassen sich 50 kleine und grosse Hände abklatschen, ein fantastisches Gefühl! Bald holen wir die ersten Freunde aus dem B ein. Dann auch aus dem A. Villaines-la-Juhel (km 202) erreichen wir nach nur 6 Stunden – eine 10er Gruppe formiert sich.
Fougères - Tinténiac - Loudéac - Carhaix. Checkpoint für Checkpoint. Stempel für Stempel. Tac-tac-tac.
Im Westen Frankreichs erwartet uns ein nebliger Morgen – es verbleiben 50km bis Brest.
Mittlerweile 18 Stunden im Sattel, von Riegeln & Gels ernährt bei bester Laune, träume ich jetzt von einer herzhaften und salzigen Mahlzeit.
Montag 13:00 / km 604 (Brest)
Für 10 Euro gibt es zwei trockene Käse-Baguettes und für weitere 14 Euro ein warmes, kleingeratenes ‚repas‘. Ein Engländer neben mir sucht nach Bahnverbindungen nach Paris, seine Knie geben bereits forfait. Ein Deutscher (Block A) verflucht die horrende Anfangsgeschwindigkeit – ansonsten ist der Esssaal leer.
Ich fahre mit einem italienischen Anwalt weiter. Wir gehören beide dem Ü80kg-Club an und ergänzen uns prächtig. Auf den nächsten 300 Kilometer werde ich nicht auf seinen Supportvan neidisch sein. Nicht auf seine erstklassige Ausrüstung. Aber auf die regelmässigen bacettos (Küsschen) seiner deutlich jüngeren Ehefrau.
Montag 21:00 / km 782 (Loudeac)
Endlich ein lebendiger Checkpoint, denn wir kreuzen die später gestarteten, gemütlicher fahrenden Randonneure. Abermals verspüre ich Lust nach Herzhaftem, doch die Schlange vor dem Restaurant schreckt mich ab. Dem Optimismus verfallen schwinge mich auf, um die nächsten 50 Kilometer anzugehen. Schlafen kann auch später noch, denke ich mir.
Einfach gedacht. Hochmut kommt vor dem Fall.
das leiden
Es dunkelt ein und das Leiden, das Leiden der zweiten langen Nacht beginnt.
Möchte mich unverzüglich und neben jedem Haus schlafen legen. Schaue sogar auf Privatgrundstücken in Partyzelter hinein, aber keines scheint warm genug. Mehr als das kurze Trikot, ein Sommergilet und das 3kg PBP gilet-jaune habe ich nicht dabei.
Im emotionalen Tief verfluche ich die inkonsequente Umsetzung der Brevet-Philosophie, die PBP-Organisation. Wieso zum Teufel gibt es für einzelne Randonneure quasi-professionellen Support? Wieso fühlt sich dieses Brevet wie ein Rennen an?
WIESO ZUR HÖLLE FAHREN DIE FRANZOSEN KEINE RICHTIGEN ABLÖSUNGEN? WIESO DÜRFEN SIE SICH FRISCHE KLEIDER VOM VAN ANZIEHEN? NICHT MAL DIE LICHTER FÜHREN SIE TAGSÜBER MIT!
Monsieur, s’il vous plaît, arrête donc!
Lege die Hand auf meine Halskette, ein Tigerauge. Der Gedanke an meine Liebste(n) und der Glaube an unsichtbar wirkende Kräfte beruhigt. Die beste Strategie zu diesem Zeitpunkt: Weiterfahren.
Tritt für Tritt. Langsam, aber stetig.
dienstag 03:30 / km 867 (Tinténiac)
Ich erreiche den mentalen Tiefpunkt dieser Reise.
Alleine sitze ich im Esssaal, gebeugt über zwei Portionen Lasagne. Mit Ach, Krach und einer Dose Lipton Eistee verschwinden diese im hohlen Magen. Kopf auf den Tisch. 2 Minuten geschlafen. Vielleicht auch nicht. Zähneputzen und weiterfahren.
Die Nacht ist dunkel – es folgen mir kleine Schattengeister am Strassenrand.
aufholjagd
Nun treffe ich auf den Grazer Martin, wir fahren eine ganze Weile zusammen. Sehen zwei seiner Landsmänner am Strassenrand, einer am Erbrechen. Kurz vor der Dämmerung teilt Martin eine Koffeintablette mit mir. Bei ihm wirkt sie zu spät. Er lässt sich konsequenterweise zurückfallen, was mich zur Verfolgungsjagd nach vorne animiert. Alleine ist PBP zu viel Arbeit, zu wenig Freude, zu wenig Gesellschaft. Schlafen? Kann später noch.
dienstag 07:00 / km 1017 (villaines-la-juhel)
Nach einem Husarenstück bis vor Villaines-la-Juhel erspähe ich eine Sechsergruppe. Nach einer knappen Verschnaufpause schliesse ich mich drei A-Startern an. Die Herren sind derart erfahren und diszipliniert, dass sie von nun an gemächlich dahingondeln. Ich messe seit Villaines einen 20 km/h-Schnitt. «Listen, we are in no hurry. 50 hours are well within reach.»
nahender sekundenschlaf
Es ist soweit – der Schlafmangel kommt ‘Hallo sagen’.
Beinahe apathisch der Gruppe folgend frage ich den Brasilianer Lucas, ob er sich auch kurz hinlegen wolle. Er zögert keine Sekunde mit der Entscheidung. Auch er: «Auf der Felge». Wir verabschieden uns von den Spaniern und legen uns gleich neben der Hauptstrasse ins Gras. Ich stelle den Timer und lass mich fallen.
Wow. Blosse 15 Minuten verändern die Welt um uns herum. Wir verspüren wieder Lust. Die Mittagssonne scheint für uns, die Kraft in den Beinen ist zurück.
Bald holen wir einen ausgezehrten Kanadier ein. Er arbeitet sich gerade im innersten Kreis der Gedankenhölle ab. Auch er: Viel zu schnell gestartet. Nur noch mit Wasser, Liebe und Support unterwegs. Quand même hat er die 50 Stunden im Blick, denn dies habe noch kein(e) Kanadier:in vor ihm geschafft. Es ist ein einziges carnage hier vorne. Und jetzt trifft es mich.
schmerzen aus heiterem himmel
Vor Mortagne-au-perche beginnt der linke Fuss zu zwicken. Am nächsten Checkpoint lässt sich der Socken kaum mehr über den geschwollenen Fussrist abstreifen. Und der Gestank! Oh la la messieurs, je m’excuse! Während die Sanitäter die Schwellung kühlen, wähne ich mich in einer Französischlektion. Mündliche Note: eine aufgerundete 4 (genügend). Etwas benommen bitte ich um eine Cola, denn mein Blutzucker verschwindet abrupt in den Schulhauskeller.
Unsicher, ob die Weiterfahrt langfristigen Schaden am Fuss anrichten könnte, denke ich hier das erste und letzte Mal … an ein mögliches DNF.
Ein schwerer Gedanke. Und entscheide mich nach einer halben Stunde für die Weiterfahrt.
Das nächste Ziel ist die Sanität in Dreux, der letzte Checkpoint vor dem Ziel. Kurz den Sattel um 3mm nach unten korrigiert und einer Banane im Mund geht’s weiter.
dienstag 15:00 / km 1176 (dreux)
Last Checkpoint. Der Fuss wie von Wunderhand geheilt.
Hurra, ich treffe Martin wieder! Einziges Gesprächsthema: Die 50 Stundenmarke. Da kommt Ben von Seattle angerauscht: «Guys, let’s ride!» Sein Kleider- und Velostil ist eine einzige Hommage an die «alten» Tage der Randonneure. Er fährt ein pastellpinkes ‘Frek’ – ein umgebauter Trek Stahlrahmen von 1982 für $150 mit mechanischer Campi Schaltung, klassisch-silbernen Schutzblechen und stoffiger Lenkertasche. Magnifique! Während ich im Windschatten sein vintage-angehauchtes Audax-Seattle-Trikot bewundere, kommt mir dieses Sprichwort in den Sinn: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Wir fahren das letzte Teilstück im 4er Gruppetto – die Sonne brennt auf uns nieder. Noch 30km.
Eine sanfte Zufriedenheit macht sich breit. Ich denke an meine Freunde Philipp, Nathanael und Lukas – sie erwarten mich im Ziel. Ein paar Tränen kullern.
Noch 15km. 10km. 5km. Ich gönne uns eine letzte, lange, kräftige Ablösung.
Noch eine Rechtskurve, holprig über Kopfsteinpflaster. Wir fahren über die Zeitmessmatte und sehen von oben herab den Eingang zum Schlossgarten – den Zielbogen vor unseren Augen.
epilog
Je suis bien content.
Unbeschreiblich gross die Freude, welche ich vor, während und nach der langen Fahrt verspürte.
All die freiwilligen & interessierten Helfer:innen an den Checkpoints und am Strassenrand zu treffen. Die Reise selbstständig geschafft zu haben und gleichzeitig den Rückhalt meiner Freunde zu spüren. Nie am absoluten Limit gewesen zu sein. Abgesehen vom kurzen Fussintermezzo, kaum körperlich gelitten zu haben. Im Ziel noch klar denken und danach zusammen auf ein Abendessen, ein Bierchen trinken zu können. Kein Transcontinental, kein RAAM, kein the-next-big-thing klopft an der Haustür.
Zu einsam, zu weit, zu viel des Guten. Ich bin einfach … zufrieden.
Total time: 48:12 hrs (25km/hr) | Ride time: 43:05 hrs (28 km/hr)
Distanz: 1220km | Höhenmeter: 11’000 Meter
gear details for the geeks
- Canyon Grizl Shimano GRX Di2
- Beleuchtung: Supernova M99 DY + SON 28
- Übersetzung: Sub-Compact 46-30 / 11-28
- 28mm Conti 5000 Schlauchreifen (Tubolito) bei 4.8 bar
- Systemgewicht: ca. 97 kg (inkl. 3 Liter Wasser)
- Taschen: Lenkerpouch, Toptube-Bag von Apidura (bolt-on), Rahmentasche Cyclite & Satteltasche Ortlieb (3l)
- Wattometer: Keinen
- Tri-Lenker-Aufsatz: Keinen
- Bock-ometer: Ständig am überlaufen
le veloaward by dai
Ben’s FREK – ein wahres Bijoux (Quelle)